Wenn wir als Kind beginnen zu sprechen, dann ahmen wir zuerst nur nach, was wir hören. Das sind am Anfang vor allem die Laute, die unsere Eltern von sich geben – und die zunehmend auch eine Bedeutung für uns annehmen. Mit dem Spracherwerb lernen wir nicht nur Wörter und ihre Bedeutung kennen, sondern damit auch die Welt um uns herum sowie uns selbst. Wir können nicht zuletzt deshalb überhaupt erst begreifen, dass wir traurig oder glücklich sind, weil wir Wörter für diese Zustände haben. Das heißt auch, dass unser Verständnis der Welt mit unserem Wortschatz wächst. Unweigerlich fällt uns das berühmte Beispiel von den Inuit und ihren unzähligen Begriffen für das ein, was wir ganz einfach „Schnee“ nennen. Was wir nicht benennen können, das gibt es für uns nicht. Weshalb die Reglementierung von Sprache immer schon ein politisches Machtmittel war, das vor allem totalitäre Systeme bemühen, um missliebige Phänomene aus der Wahrnehmung der Menschen zu tilgen.
In Russland aufgewachsen, hatte Svetlana Kolkova zwar schon immer einen großen Wortschatz, aber der Staat schaffte es dennoch, dass ihr ein großer Teil ihrer eigenen Identität viele Jahre lang verborgen blieb. Denn hier leben noch heute Homosexuelle weit unter dem Radar, zeigen sich nicht in der Öffentlichkeit und kommen auch in den Medien nicht vor: Schwule und lesbische Liebe werden einfach totgeschwiegen. Auch Svetlana wusste schlichtweg nicht, dass das Herz gleichgeschlechtlich lieben kann, bis sie mit Mitte 20 für ein Praktikum nach Deutschland kam.
Um Svetlanas Sozialisation zu verstehen, müssen wir zuerst einen Blick auf die Geschichte Russlands werfen. Bedenken wir, dass die Sowjetunion die Homosexualität 1921 als eines der ersten Länder legalisierte, können wir das, was wir heute aus Russland hören, kaum glauben. Schon 1933 führte das Land aber eine Gesetzesänderung durch, die sexuelle Handlungen zwischen Männern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis, mit Zwangsarbeit oder mit einer Art „Behandlung zur Umorientierung“ ahndete. Erst 1993, vor nicht einmal 30 Jahren, wurde das bestehende Gesetz endgültig aufgehoben, aber noch bis 1999 galt Homosexualität offiziell als Geisteskrankheit. Heute ist sie generell zwar erlaubt, homosexuelle Propaganda in der Öffentlichkeit wird aber unter hohe Strafe gestellt. Anders gesagt: Niemand darf über Homosexualität in der Gegenwart von Kindern sprechen oder die gleichgeschlechtliche Liebe öffentlich zeigen. Und damit existiert sie in der russischen Wahrnehmung streng genommen nicht. Sie darf nicht sein.
Das galt auch schon, als Svetlanas Eltern noch Kinder waren. Obwohl sie immer schon sehr bildungsorientiert und tolerant waren, wuchsen sie doch in einem System auf, in dem es für Homosexualität keinen Platz gab. Ganz grundsätzlich wird in der russischen Kultur nicht über Gefühle gesprochen: Genauso, wie es keine Liebesbekundungen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren gibt, würden auch Männer und Frauen nie in der Öffentlichkeit ihre Gefühle zeigen oder aber mit ihrer Familie über Gefühle sprechen. So war es auch in Svetlanas Familie – und dennoch beschreibt sie ihre Kindheit und Jugend in Moskau als außergewöhnlich glücklich, denn sie spürte die Liebe der Eltern jeden Tag. Ihr Vater Wladimir arbeitete als Professor an der Universität, ihre Mutter war Lehrerin. Sie war von Kindesbeinen an Svetlanas großes Vorbild und so ging sie nach dem Schulabschluss in eine kleine Studentenstadt, um hier, genau wie ihr Idol, Deutsch zu studieren. Anders als wir es aus dem deutschen Studentenleben kennen, gab es damals für Svetlana aber keine großen Partys und auch keine Liebesgeschichten. Die junge Frau gab ihre gesamte Energie ins Studium. „Rückblickend habe ich schon das Gefühl, dass die Jugend in Russland zumindest damals anders tickte als die in Deutschland“, erklärt Svetlana. „Als ich aufwuchs, hielt dort niemand öffentlich Händchen. Sexualität spielte offensichtlich keine Rolle. Ich fand es deswegen auch nicht merkwürdig, dass meine Freundschaften zu Männern immer platonisch blieben.“
Und dennoch gehört das Entdecken der eigenen Sexualität zur Entwicklung jedes Menschen dazu. Bis heute begreift Svetlana nicht, wie es das Lied „All the things she said“ vom Popduo „t.A.T.u.“ um die Jahrtausendwende auf die russischen Sender schaffen konnte. Aber sie kann sich noch genau daran erinnern, was dieses Lied damals bei ihr auslöste: „Ich hörte in diesem Song zum ersten Mal, dass zwei Frauen Sehnsucht füreinander empfinden können. Mich ließ das Lied nicht mehr los, obwohl ich es natürlich nicht verstand“, erklärt sie.
Das änderte sich, als Svetlana 2005, mit 23 Jahren, im Rahmen eines Praktikums nach Deutschland kam. Hier erlebte sie ein Land, das so anders mit Körperlichkeit und Emotionen umging als ihre Heimat. Sie sah Männer und Frauen, die sich in der Öffentlichkeit küssten. Sie sah Männer, die Händchen hielten, und Frauen, die Zärtlichkeiten austauschten. „Es war wie eine andere Welt“, erklärt sie. „Ich war total überwältigt von dieser Offenheit.“ Und auf einmal begann die junge Frau auch, sich selbst besser zu verstehen. Als sie den Flieger zurück nach Moskau nahm, hatte sie sich verändert. Es war, als hätte sie eine neue Sprache gelernt – sie hatte das fehlende Stück ihrer Identität gefunden.
Zurück in der Heimat begann demnach auch eine schwierige, aufregende Zeit. In einem strengen, intoleranten Regime fand die junge Frau eine Welt, die ihr bislang verborgen geblieben war. Sie tauchte ein in die homosexuelle Gemeinschaft, die tief unter der öffentlichen Wahrnehmung existierte. „Ich ging auf die Suche nach Communitys, fand Clubs und lernte Frauen und Männer kennen, denen es ähnlich ging wie mir“, erklärt sie. „Ich lernte aber auch schnell, dass wir versteckt handeln und unter uns bleiben mussten. Offensichtlich lesbisch oder vor allem schwul zu sein, ist in Russland noch immer gefährlich.“ Denn hinter der alten Gesetzgebung steht auch heute noch ein Mob, der gleichgeschlechtlich Liebende gewaltsam verfolgt. Immer wieder werden schwule Männer zusammengeschlagen und die Durchführung von homosexuellen Veranstaltungen untersagt. Schlimmer sei aber die Angst vor Anfeindung oder sogar gewaltsamen Reaktionen. Aus dieser Erfahrung heraus erwuchs auch Svetlanas erste Selbstständigkeit. Die junge Frau beobachtete, dass lesbische Frauen nach Partys in entsprechenden Lokalitäten immer wieder Probleme hatten, sichere Taxifahrten nach Hause zu ergattern. Svetlana gründete gemeinsam mit anderen lesbischen Frauen ein Taxiunternehmen, das sicheres Geleit gewährleisten sollte. „Natürlich durfte die Regierung nicht erfahren, mit welcher Motivation wir unser Taxiunternehmen ins Leben riefen“, erinnert sie sich. „Aber Leute aus der Szene verstanden unsere geheimen Botschaften.“ So glitzerte das chinesische Zeichen für „Liebe“ in Regenbogenfarben hinter den Scheiben der Taxen, deren Name „Love Galaxy Best Taxi“ Eingeweihten verriet, wen die Taxifahrerinnen ansprechen wollten. „In Russland gehören Begriffe wie „LGBT“ nicht zum Volksmund“, schildert Svetlana weiter. „Das versteht niemand, der nicht selbst schwul oder lesbisch ist.“
Auch privat lebte Svetlana nach ihrer Rückkehr zwei Leben, ein öffentliches und ein verstecktes. Von lesbischen Freundinnen lernte sie schnell, die richtigen Erklärungen für ihre Handlungen und Gewohnheiten zu finden. Vor ihren Eltern und ihrem Bruder sprach die junge Russin zum Beispiel immer wieder von der Wohngemeinschaft mit einer Freundin. „Ich habe mich nie geoutet“, sagt sie und greift nach Silkes Hand. „Ich hatte das Gefühl, das passt einfach nicht, wenn ich es ihnen sage. Ich wollte ihnen keine Sorgen machen.“
Svetlanas Eltern sind wichtige Menschen im Leben der heute 39-Jährigen. Wenn sie über den Tod ihrer Mutter spricht, glitzern noch immer die Tränen in ihren Augen. Ihre Mutter hat nie offiziell erfahren, dass Svetlana Frauen liebt. Der Beobachter vermeint Sehnsucht in ihren Augen zu erkennen, wenn sie über das ausgebliebene Outing erzählt. Ihre Mutter ging, ohne dass Svetlana mit ihr über dieses eine, so wichtige Stück ihrer Identität sprechen konnte. Aber auch kulturell bedingt, so wiederholt die junge Frau erneut, kommen ja eben Gefühle in Russland einfach nicht in der Kommunikation vor. Svetlana war es immer wichtig, diese klassischen, russischen Werte zu akzeptieren und im Umgang mit ihren Eltern auch wertzuschätzen. „Meine Eltern haben mit mir auch nie über ihre eigene Liebe gesprochen“, erklärt sie. „Wir tun das einfach nicht. Und auch ich würde es als unangebracht empfinden, ihnen von meinen Gefühlen zu erzählen. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns gegenseitig weniger mögen, sondern einfach, dass wir uns eben stumm akzeptieren.“
Erst Silke gegenüber öffnete Svetlana ihr Herz. Nachdem sich die Russin irgendwann entschieden hatte, ganz nach Deutschland zu kommen, war es eine kurze, schicksalhafte Begegnung vor zwei Jahren, die alles veränderte. Im Grugapark in Essen war Svetlana mit ihrem Vater Wladimir unterwegs, der gerade aus Russland zu Besuch war. Auch Silke hatte einen freien Tag und entschied sich für Sightseeing in der eigenen Nachbarschaft. „Ich suchte die Flamingos und fragte die beiden, ob sie diese irgendwo gesehen hätten“, erklärt die 49-Jährige und schmunzelt. „Dabei bin ich mit Svetlanas Vater ins Gespräch gekommen. Wir verbrachten anschließend den ganzen Tag miteinander.“
Silke kommt aus Deutschland und damit aus einer ganz anderen Welt als Svetlana. In einer Großfamilie aufgewachsen, wussten schon immer alle Familienmitglieder, dass sie Frauen liebt. „Ich schwärmte schon für meine Kindergärtnerin“, erklärt sie mit erfrischender Offenheit. „Irgendwann brachte ich meine erste Freundin mit nach Hause und niemand stellte Fragen. Es war klar, dass wir ein Liebespaar sind.“ Die Offenheit, die Silke in ihrer Familie erlebte, gab ihr Stärke. Sie fand hier Raum, um sich als lesbische Frau selbst zu entdecken, über Liebeskummer zu sprechen und sich als Persönlichkeit offen zu entwickeln. „Ich habe nie Einschränkungen oder Benachteiligungen aufgrund meiner Sexualität erfahren“, beschreibt sie. „Und so bin ich auch mit Svetlana und ihrem Vater umgegangen. Ich habe offen darüber gesprochen, dass ich mich gerade in einer Scheidung von einer Frau befinde. Ich wusste ja nichts von der russischen Befangenheit.“
Svetlana verschlug es die Sprache. Sie konnte nicht glauben, dass eine fremde Frau so offen mit ihrem Vater über ihre lesbische Orientierung spricht. Hielt sie sich im Kontakt mit Silke vorerst zurück, war Wladimir angetan von der jungen Deutschen. „Es war damals Wahl und die beiden verabredeten sich, um unterschiedliche Parteien zu besuchen“, erinnert sich Svetlana. „Ich war total baff und irgendwie auch fasziniert.“ Als der Vater wieder nach Russland zurückkehrte, blieben Svetlana und Silke in engem Kontakt. Silke fragte Svetlana irgendwann einfach ganz offen nach ihrer sexuellen Orientierung und erklärte ihr gleichzeitig: „Ich finde dich echt ganz süß.“ Auf einem Konzert, das die beiden gemeinsam besuchten, kamen sie schlussendlich zusammen. „Erst viel später sagte Svetlana zum ersten Mal ,Ich liebe dich’“, erinnert sich Silke und greift zärtlich die Hand ihrer Freundin. „Ich weiß, was das für ein riesiger Schritt für sie war und habe in diesem Moment einfach nur geheult. Es war perfekt.“
Silke ist das Teil, so beschreibt Svetlana, das ihr im Leben bisher gefehlt hatte. Sie war von Beginn an verbunden mit der Familie, die Svetlana so wichtig ist, und zeigte ihr offen ihre Zuneigung. Silke ist aber auch genau das, so stellt es der stumme Beobachter fest, was sich jeder Mensch von seinem Partner wünscht: Sie erkennt ihre Freundin – auch mit ihren Ängsten – an, sie nimmt sie wahr und übernimmt auch jene Aufgaben, von denen sie spürt, dass Svetlana mit ihnen überfordert ist. So war es auch, als Wladimir erneut nach Deutschland kam. Das Paar lebte damals schon in Duisburg zusammen. „Ich fand es bescheuert, auf einmal ohne Svetlana zu schlafen, nur weil wir unsere Partnerschaft nie vor ihrem Vater thematisiert hatten“, erklärt sie. „Also übernahm ich es, die Karten vor ihm auf den Tisch zu legen.“ Ein riesiger Schritt, nicht nur für Silke, sondern vor allem für Svetlana. Denn konnte sie zwar nicht selbst über ihre Gefühle sprechen, wollte es auf einmal ihre bessere Hälfte tun und damit all das offenbaren, was sie versucht hatte, mit russischer Sprachlosigkeit jahrelang zu umgehen.
Für den großen Moment wollte Silke einen geeigneten Rahmen schaffen. Sie nahm sich vor, das Gespräch mit dem Familienoberhaupt im Keller beim gemeinsamen Erwählen einer Flasche Wein zu suchen. Beide teilten die Liebe für Wein und empfanden Sympathie für einander. Da Silke sich vor dem Vater bereits als lesbisch geoutet hatte, sah sie keine großen Schwierigkeiten darin, die Beziehung zu seiner Tochter zu verkünden. Während Svetlana von der Anspannung komplett eingenommen im Esszimmer verblieb, ergriff Silke schließlich die Gelegenheit. Wäre das Leben ein Film, wäre das der Moment, an dem die Musik einsetzt und langsam anschwillt, die Finger des Publikums in der Popcorntüte zur Ruhe kommen und sich die Augen weiten für den Wendepunkt, der alles verändern kann.
„Du siehst, dass deine Tochter bei mir lebt?“ Ein kurzes Nicken. „Wir sind zusammen.“ In das erneute Nicken fällt Silke mit der hastig nachgeschobenen Ergänzung „Wir sind ein Liebespaar“, so als müsse sie die Gunst des Augenblicks nutzen und dürfe den entscheidenden Moment nicht verpassen. Jetzt war es raus. Stille. Wladimir schaute Silke fest an, bevor er ganz ruhig sagte: „Was Besseres kann meiner Tochter nicht passieren.“ Es war geschafft.
Die Szene dauerte nur wenige Sekunden, doch Svetlana, Silke und vermutlich auch Wladimir werden diesen Moment wahrscheinlich nie wieder vergessen. Svetlana und ihr Vater vermieden es danach zwar wieder – ganz nach russischer Manier – miteinander über ihre Gefühle zu sprechen, doch in diesem kurzen Augenblick hatte das Paar doch den väterlichen Segen erhalten. Ein Segen, der den beiden Frauen unendlich viel bedeutet. „Das können wir von der russischen Kultur lernen. Ich lerne es jeden Tag von meiner zukünftigen Frau“, beschreibt Silke. „Manche Dinge müssen nicht gesagt werden. Sie sind einfach gut, auch ohne, dass wir darüber reden.“ Glück fühlt man.
Unser Wortschatz ist immer begrenzt, so wie die Sprache sich fortwährend erweitert und weiterentwickelt. Und nicht alles muss ausgesprochen werden, wie die Geschichte von Svetlana und Silke beweist. Es gibt es, das stumme Einverständnis, vor allem unter Menschen, die sich nahestehen. Aber auch, wenn wir uns nur darüber verständigen möchten, worüber wir fortan nicht mehr miteinander zu sprechen brauchen, müssen wir doch wissen, dass es existiert. Und dass keine Regierung und kein Sprachverbot es auslöschen können.
Wir haben Svetlana in der VHS-Ausstellung „Kulturwerkstatt international – Krefelder Mütter und Töchter“ kennen gelernt, die noch immer in den Räumen der Volkshochschule besichtigt werden kann. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Dr. Inge Röhnelt als Leiterin der VHS dafür bedanken, dass sie den Kontakt zu Svetlana für uns hergestellt hat.